Sibirien
Premiere der Speeldeel: Horst Jacobs zog das Publikum in seinen Bann / Stehende Ovationen
Sibirische Kälte unter Menschen und im Krieg
Horst Jacobs
SCHLESWIG (by)
Die Vorstellung eines weiteren Stückes der Schleswiger Speeldeel in diesen Tagen entwickelte sich zu einem Ereignis von besonderer Art: Erstmalig wurde eine Premiere dieses Ensembles nicht im Landestheater, sondern in den „hauseigenen" Räumen von „Uns lütt Theoter" in der Friedrichstraße aufgeführt. Außergewöhnlich waren auch Zuschnitt und Aussagekraft des Monologs „Sibirien", der eigentlich nur unter Studiobedingungen aufgeführt werden kann. Dazu eignet sich die kleine Bühne vorzüglich. Ungewöhnlich ebenfalls : Das Stück war nur für einen einzigen Schauspieler konzipiert. Und diesen Auftrag bewältigte Horst Jacobs souverän und mitreißend. Stehende Ovationen waren der verdiente Dank des tief bewegten Publikums.
Hervorzuheben ist überdies der Tatbestand, dass die Speeldeel nach „Johannisfüer" zum zweiten Mal in dieser Spielzeit ein Stück mit besonders tiefgründig-ernstem Hintergrund auf die Bühne brachte. Ein mutiges Vorgehen, das die knapp 100 Zuschauer voll akzeptierten. Speeldeel-Leiter Uwe Petersen hatte bei seiner Begrüßung demgemäß auch angemerkt, hier bleibe der Besucher auch nach dem Stück zum Nachdenken aufgefordert.„Sibirien" wurde von Felix Mitterer verfasst und von Harald Maack in seine plattdeutsche Fassung gebracht. Horst Seegebarth hatte den Monolog für die Speeldeel eingerichtet und auch die Regie übernommen. Bühnenbild und Beleuchtungseffekte waren auf den Inhalt zugeschnitten, die psychische Kälte eines Zimmers in einem Pflegeheim darstellend, in dem der Patient Eichner die letzte Zeit vor seinem Tod verbringt und verschiedene Stationen seines Lebens reflektiert.
Die Monologform erscheint angemessen, weil weder Personal noch Angehörige Zeit zum Zuhören haben. Diese psychische Kälte erinnert den alten Mann an die temperaturbezogene Kälte in Sibirien in Krieg und Gefangenschaft. Dort habe man immerhin Russisch und Schach gelernt.„Sibirien" ist eine mutige Anklage gegen Krieg und Gewaltherrschaft und analysiert gleichzeitig ungelöste zwischenmenschliche Problembereiche in unserem Gesellschaftsgefüge. Einsamkeit und Verzweiflung als Folge von Rationalisierung und Egoismus werden herausgestellt.In fünf Szenen spielte Horst Jacobs den Verfall des schwächer werdenden Kranken: zuerst mit Krücken, dann mit Gehwagen, zuletzt angebunden im Bett, Sprache und Körperhaltung konnte er in überzeugender Weise zu packender „Körpersprache" vereinen, sogar die Sekunden ohne Worte waren aussagestark, der oft entgeisterte Blick in Richtung Publikum eine zusätzliche Aufforderung zum Nachdenken. Die Sterbesituation Eichners gestaltete Horst Jacobs besonders eindrucksvoll: In einem fiktiven Gespräch mit dem Bundespräsidenten, an den er geschrieben hatte, verschmolzen die Erlebnisse im Pflegeheim und die Erinnerung an Sibirien ineinander. „Sibirien" ist ohne Zweifel eine Bereicherung im derzeitigen kulturellen Spektrum unserer Stadt.
Schleswiger Nachrichten, 5.3.2001
Schleswiger Speeldeel griff mit Ein-Personen-Stück aktuelles Problem auf:
Pflegebedürftigkeit im Alter
Aufführung löste tiefe Betroffenheit aus
KAPPELN (ja)
Betroffen, bestürzt und in sich gekehrt, so verließen die 150 Zuschauer nach Beendigung des gegenwartsrelevanten Theaterstückes der Schleswiger Speeldeel "Sibirien" im Christophorus Haus die Darbietung. Was ihnen während der knapp zwei Stunden im Einpersonenstück mit Horst Jacobs in einer beeindruckenden und tiefgreifenden schauspielerischen Rolle geboten wurde, berührte nicht nur tief die Psyche jedes Einzelnen, sondern wies auch auf das gnadenlose System der zeitgebundenen Zuwendung pflegebedürftiger Menschen hin.
In fünf Bildern zeigte das Stück den stufenweisen physischen wie geistigen Verfall eines frisch operierten alten, dennoch relativ agilen Mannes bis zu seinem erlösenden Tod auf. Alles, was er erwartete und sich erhoffte, menschliche Zuwendung, Verständnis, Geborgenheit nichts von alledem bekam er. Auch sein Versuch, sich menschliche Nähe und Zuwendung „zu erkaufen" schlug fehl; denn die systemgebundenen Zeiteinschränkungen bei der Pflege, bedingt durch die Mittelverknappung, lässt solches nicht zu. Mit Allgemeinphrasen werden seine Vorstellungen und Wünsche verbal abgespeist, er resigniert und wird zusehends verbitterter.
Vergebens wehrt er sich gegen das gefühlskalte Versorgungs- und Entsorgungssystem moderner Prägung, in der Menschen bis zum Tode verwahrt werden. Der absolute Mangel an entgegengebrachten Gefühlen erinnert ihn an seine Zeit im sibirischen Kriegsgefangenenlager, wo das Lagersystem bar jeder Menschlichkeit war und die Wärter gleichermaßen zu Gefangenen wurden. Sein Heimaufenthalt kommt ihm einer zweiten Deportation gleich. Seine Wehr gegen die Bevormundung und "menschliche Barbarei", wobei er sich sogar an höchste Instanzen wendet, lässt ihn in den Augen der Pflegestation renitent erscheinen, seine scheinbare Widerspenstigkeit wird als Altersstarrsinn gedeutet. Ein Grund, ihn systemkonform, zum Pflegefall "abzustempeln".
Aus dem dynamischen alten Mann wird ein ans Bett gefesselter Pflegefall, dem selbst bei der Notdurft nicht geholfen wird, weil die Zeitvorgaben dies nicht zulassen. Das Gitterbett empfindet er als Käfig, der ihn als Mensch degradiert. Seine körperliche Kraft schwindet gleichermaßen wie seine psychische, aus dem dynamischen wird zusehends ein seniler, verwirrter Mann, der in einer völlig anderen Gedankenwelt lebt und dabei zunehmend Vergangenheit und Gegenwart vermischt, bis ihn der Tod sanft erlöst.
In einer Paraderolle durchlief der Schauspieler Horst Jacobs unter der Regie von Horst Seegebarth in einem bewusst einfach und steril gehaltenen Bühnenbild den Wandel eines aufmüpfigen, Krückstock gebundenen alternden Mannes bis zum verbitterten, verwirrten Sterbenden.
Den Text dazu schrieb Felix Mitterer, der von Harald Maack ins Niederdeutsche umgeschrieben wurde. Für die Technik war Volker Schwarz zuständig, während Maria Clausen-Seegebarth soufflieren sollte, aber es dank einer exzellenten Einstudierung gar nicht brauchte.
Es sei die nunmehr letzte Vorstellung des Stückes von insgesamt 19 Darbietungen, erklärte der Regisseur, das im März letzten Jahres erstmals und seither in verschiedenen Städten aufgeführt wurde.
Der Geschäftsführer von der "ambulanten Pflegeeinrichtung Angeln", ErnstOtto Löwenstrom, begrüßte namens des Diakonischen Sozialzentrums die Gäste, die, wie er feststellte, überwiegend aus den Bereichen der ambulanten und stationären Altenhilfe kamen und dankte der Theatergruppe für ihren unentgeltlichen Auftritt.
Vielen der Anwesenden, sagte er, würden die Vorkommnisse sicherlich mehr oder weniger aus der Praxis geläufig sein, wenn auch etwas überzogen dargestellt. Letztendlich könnte die im Stück angedeutete Institution in ihrer Konsequenz auch eine überforderte Familie sein.
Quelle: Schleswiger Nachrichten, 20.11.2001